Donnerstag, 14. Oktober 2010

Der letzte Weg




Und am frühen Morgen faßten die Hohenpriester mit den Ältesten und Schriftgelehrten und dem ganzen Hohen Rat sogleich einen Beschluß, und sie banden Jesus und führten ihn weg und überlieferten ihn dem Pilatus. Und Pilatus fragte ihn: Bist du der König der Juden? Er aber antwortete und spricht zu ihm: Du sagst es. Und die Hohenpriester klagten ihn vieler Dinge an. Pilatus aber fragte ihn wieder und sprach: Antwortest du nichts? Siehe, wie vieles sie gegen dich vorbringen! Jesus aber antwortete gar nichts mehr, so daß Pilatus sich wunderte.

Zum Fest aber pflegte er ihnen einen Gefangenen loszugeben, wen sie sich erbaten. Es war aber einer, genannt Barabbas, mit den Aufrührern gefangen, die in dem Aufstand einen Mord begangen hatten. Und die Volksmenge ging hinauf und fing an zu bitten, daß er tue, wie er ihnen bisher getan habe. Pilatus aber antwortete ihnen und sprach: Wollt ihr, daß ich euch den König der Juden losgebe? Denn er wußte, daß die Hohenpriester ihn aus Neid überliefert hatten. Die Hohenpriester aber wiegelten die Volksmenge auf, daß er ihnen lieber den Barabbas losgebe. Pilatus aber antwortete wieder und sprach zu ihnen: Was soll ich denn mit dem tun, den ihr den König der Juden nennt? Sie aber schrien wieder: Kreuzige ihn! Pilatus aber sprach zu ihnen: Was hat er denn Böses getan? Sie aber schrien über die Maßen: Kreuzige ihn! Da aber Pilatus der Volksmenge einen Gefallen tun wollte, gab er ihnen den Barabbas los und überlieferte Jesus, nachdem er ihn hatte geißeln lassen, damit er gekreuzigt werde.

Die Soldaten aber führten ihn in den Hof hinein, das ist das Prätorium; und sie rufen die ganze Schar zusammen. Und sie legen ihm ein Purpurgewand an und flechten eine Dornenkrone und setzen sie ihm auf; und sie fingen an, ihn zu grüßen: Sei gegrüßt, König der Juden! Und sie schlugen ihn mit einem Rohr auf das Haupt und spien ihn an, und sie beugten die Knie und huldigten ihm. Und als sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm das Purpurgewand aus und zogen ihm seine Kleider an.

Und sie führen ihn hinaus, um ihn zu kreuzigen. Und sie zwingen einen Vorübergehenden, einen gewissen Simon von Kyrene, der vom Feld kam, den Vater Alexanders und Rufus', daß er sein Kreuz trage.

(Kapitel 15, 1 – 21)

Die Einzelheiten dieser Geschichte sind allen Christen bekannt. Jedes Jahr zu Karfreitag werden die Worte in den Kirchen gelesen. Trotzdem erschrecken sie beim erneuten Lesen immer wieder. Das Ende Jesu vollzieht sich in einer Orgie von Haß und Gewalt.

Der Passionsfilm von Mel Gibson aus dem Jahre 2004 ist dafür kritisiert worden, daß er in überaus grausamen Bildern schwelgt. Aber es ist wohl richtig, was der alte Papst Johannes Paul II. gesagt haben soll, als man ihm den Film vorab privat vorgeführt hat: so ist es gewesen.

Zur Entsetzen kommt ein gewisses Unverständnis hinzu. Irgendwie bleiben die letzten Ursachen für Jesu Tod im Unklaren. Wer hat letztlich über sein Leben entschieden?

Die Juden waren es zunächst wohl nicht, sie dürfen kein Todesurteil verhängen, weil die Gerichtsbarkeit bei der römischen Besatzungsmacht liegt (die man wenige Jahre nach dem Tod des großen Herodes im Jahre 4 auf jüdischen Wunsch hin nach Judäa geholt hat, nachdem der Sohn des Herodes sich als unfähig erwies, das Land zu regieren). Der römische Gouverneur Pilatus zeigt nun aber seinerseits wenig Lust, in religiösen Streitigkeiten auf Tod und Leben zu entscheiden. Daß Jesus ihm als König der Juden nicht gefährlich werden kann, hat er sicherlich auf den ersten Blick gesehen. Und so macht er ein heute noch modernes und beliebtes Spiel mit dem Volk: er veranstaltet, wie man heute sagen würde, ein Casting. Jesus und ein krimineller Gewaltverbrecher werden vor das Volk gestelt. Das Volk wählt, und einer der beiden kommt frei.

Im Ergebnis legt er das Schicksal Jesu also in die Hände des jüdischen Volkes, und das spricht ein schnelles und einstimmiges Urteil: kreuzige ihn! Dieses Votum hat später dazu geführt, daß der den Juden zugeschriebene Mord an Jesus ein ewiger Grund für den scheinbar unauflöslichen Haß zwischen Juden und Christen geworden ist. Der Antisemitismus hat hier eine seiner stärksten Quellen.

Aber es gibt eine Alternative zur Beschuldigung der Juden und damit der Fortsetzung von Gewalt und Rache. Sie hat vielleicht am schönsten der christliche Liederdichter Paul Gerhardt (1607 – 1676) in Worte gefaßt, ein vom dreißigjährigen Krieg und viel persönlichem Elend schwer gezeichneter Mann. In einer Liedstrophe spricht er Jesus unmittelbar an und fragt ihn:

Wer hat dich so geschlagen,
mein Heil, und dich mit Plagen
so übel zugericht’?
Du bist ja nicht ein Sünder
wie wir und unsre Kinder,
von Übeltaten weißt du nicht.


Und dann antwortet er selbst:

Ich, ich und meine Sünden,
die sich wie Körnlein finden
des Sandes an dem Meer,
die haben dir erreget
das Elend, das dich schläget,
und deiner schweren Martern Heer.

Johann Sebastian Bach (1685 – 1750) hat beide Strophen in seine berühmte Johannespassion, die Vertonung des Passionsberichtes aus dem Johannesevangelium, einfließen lassen. Und so hören es viele Christen Jahr um Jahr und bekennen: unter diesem Volk, das so fatal und boshaft kreuzige ihn! geschrieen hat, stand auch - ich.








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