Mittwoch, 24. März 2010

Die erste Rede





Und wieder fing er an, am See zu lehren. Und es versammelt sich eine sehr große Volksmenge zu ihm, so daß er in ein Boot stieg und auf dem See saß; und die ganze Volksmenge war am See auf dem Land. Und er lehrte sie vieles in Gleichnissen; und er sprach zu ihnen in seiner Lehre:

Hört! Siehe, der Sämann ging hinaus, um zu säen. Und es geschah, indem er säte, fiel das eine an den Weg, und die Vögel kamen und fraßen es auf. Und anderes fiel auf das Steinige, wo es nicht viel Erde hatte; und es ging sogleich auf, weil es nicht tiefe Erde hatte. Und als die Sonne aufging, wurde es verbrannt, und weil es keine Wurzel hatte, verdorrte es. Und anderes fiel unter die Dornen; und die Dornen sproßten auf und erstickten es, und es gab keine Frucht. Und anderes fiel in die gute Erde und gab Frucht, indem es aufsproßte und wuchs; und es trug eines dreißig-, eines sechzig- und eines hundertfach.

Und er sprach: Wer Ohren hat zu hören, der höre!

Und als er allein war, fragten ihn die, die um ihn waren, samt den Zwölfen nach den Gleichnissen. Und er sprach zu ihnen: Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben, jenen aber, die draußen sind, wird alles in Gleichnissen zuteil, "damit sie sehend sehen und nicht wahrnehmen und hörend hören und nicht verstehen, damit sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben werde ".

Und er spricht zu ihnen: Begreift ihr dieses Gleichnis nicht? Und wie wollt ihr all die Gleichnisse verstehen? Der Sämann sät das Wort. Die an dem Weg aber sind die, bei denen das Wort gesät wird und, wenn sie es hören, sogleich der Satan kommt und das Wort wegnimmt, das in sie hineingesät worden ist. Und ebenso sind die, die auf das Steinige gesät werden, die, wenn sie das Wort hören, es sogleich mit Freuden aufnehmen, und sie haben keine Wurzel in sich, sondern sind Menschen des Augenblicks; wenn nachher Bedrängnis oder Verfolgung um des Wortes willen entsteht, ärgern sie sich sogleich. Und andere sind die unter die Dornen Gesäten, es sind die, die das Wort gehört haben, und die Sorgen der Zeit und der Betrug des Reichtums und die Begierden nach den übrigen Dingen kommen hinein und ersticken das Wort, und es bringt keine Frucht. Und die auf die gute Erde Gesäten sind jene, die das Wort hören und aufnehmen und Frucht bringen: eines dreißig- und eines sechzig- und eines hundertfach.


(Kapitel 4, 1 -20)


An dieser Stelle wird die erste große Rede von Jesus aufgezeichnet und wiedergegeben. Man darf jetzt also fragen: wenn Jesus eine Botschaft - Nureddin würde sagen eine Sunna - hat, wie lautet sie dann? Die Antwort ist verstörend: Jesus erklärt, daß man seine Botschaft nicht verstehen wird, jedenfalls gilt das für die Masse des Volkes. Er ist nicht gekommen, um die Leute aufzuklären, er redet im Gegenteil wie zu Taubstummen und redet mit dem Ziel, damit sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben werde.

Diese Zielrichtung wäre ganz und gar gegen jede Vorstellung, wenn sie nicht ein allen Juden bekanntes Zitat enthielte. Jesus gibt hier die Worte wieder, die bei der Berufung eines der berühmtesten Propheten der Bibel, Jesaja, gesprochen werden. Auch Jesaja wird von Gott zu den Menschen als einem blinden und tauben Volk geschickt und darf nicht damit rechnen, verstanden zu werden. Die Szene wird im berühmten sechsten Jesaja-Kapitel geschildert.

Nach meinem Eindruck muß aber auch einem Moslem das Problem bekannt vorkommen, von dem Jesus hier redet. Auch im Koran geht es immer wieder um die Hartherzigkeit der Zuhörer, die das Wort aller Propheten zu allen Zeiten nicht annehmen wollen. Es gibt im Koran Passagen, in denen Mohammed fast verzweifelt wirkt und von Gott getröstet werden muß.

Der Prophet Jesaja fragt übrigens, wie lange dieser Zustand anhalten wird, in welchem die Menschen den Boten Gottes nicht verstehen. Er bekommt eine düstere Antwort, die mit den Worten beginnt: Bis die Städte verwüstet sind... (Jesaja 6, 11)

Die christliche Antwort fällt sehr viel positiver aus, wird aber eigentlich erst später, in den ersten Tagen der Jungen Gemeinde in Jerusalem gegeben. In dem Moment nämlich, an dem die Gemeinde in die Öffentlichkeit tritt, fällt mit einem Schlag der Nebel, der bisher den Zugang zur göttlichen Botschaft verhangen hat. Es geschieht das sogenannte Pfingstwunder, ein Sprachenwunder, in welchem Menschen in der Predigt des Petrus sogar das hören und verstehen können, was nicht einmal in ihrer Sprache gesagt worden ist. Viele ausländische Gäste hören der Predigt in Jerusalem zu, und es ist gerade so, als ob jedem Menschen ein eigener Übersetzer eingepflanzt worden wäre. Alle verstehen alles, und sie lassen es auch sogleich zu, daß sich ihr Leben verändert.

Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg, und es kostet Jesus buchstäblich das Leben, daß er die Sprachlosigkeit zwischen Gott und den Menschen aufheben kann.

Für uns heutige, wie nach dem Pfingstwunder leben und also Jesus verstehen können, enthält der Abschnitt ein wunderbares Bild von der Aufnahmefähigkeit des menschlichen Herzens für, wie man heute sagen würde, spirituelle Dinge. Immer wieder erkennt man sich selbst in dieser Rede wieder, wie man von einem göttlichen Gedanken inspiriert diesem aber dauerhaft keine Wurzelnahrung geben kann oder zusehen muß, wie die Dornen und Disteln des Alltags schneller wachsen als die Frucht dieses Gedankens. Sehr deutlich wird auch, daß es Jesus um die Frucht eines frommen Lebens geht. Wie kaum jemand vor ihm hat Jesus die Gabe, echte und falsche Frömmigkeit in einem Menschen zu unterscheiden, eben an der praktischen Frucht seines Denkens. Davon werden wir im Folgenden noch mehr lesen.



1 Kommentar:

  1. ... Dornen und Disteln des Alltags schneller wachsen als die Frucht dieses Gedankens - hier stutze ich, lese ich doch gerade zum wiederholten Male Tolstois letzten Roman, den Hadschi Murat, geschrieben zu einer Zeit, als Tolstoi bereits der - wenn auch wohl unfreiwillige - Begründer des als christlich geltenden Tolstojanismus war, um das Buch dann mit dem großen heidnischen Bild der Tatarendistel zu eröffnen und zu schließen. Die handelnden Personen sind christliche, in Tolstois Verständnis unchristliche Russen und moslemische Tschtschenen.

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