Dienstag, 11. Mai 2010

Ein Sinneswandel im Libanon





Von dort aber brach er auf und ging weg in das Gebiet von Tyrus; und er trat in ein Haus und wollte, daß niemand es erfahre; und er konnte nicht verborgen sein. Aber sogleich hörte eine Frau von ihm, deren Töchterchen einen unreinen Geist hatte, kam und fiel nieder zu seinen Füßen; die Frau aber war eine Griechin, eine Syro-Phönizierin von Geburt; und sie bat ihn, daß er den Dämon von ihrer Tochter austreibe. Und er sprach zu ihr: Laß zuerst die Kinder satt werden, denn es ist nicht schön, das Brot der Kinder zu nehmen und den Hunden hinzuwerfen. Sie aber antwortete und spricht zu ihm: Ja, Herr; auch die Hunde essen unter dem Tisch von den Krumen der Kinder. Und er sprach zu ihr: Um dieses Wortes willen geh hin! Der Dämon ist aus deiner Tochter ausgefahren. Und sie ging weg in ihr Haus und fand das Kind auf dem Bett liegen und den Dämon ausgefahren.

Und er verließ das Gebiet von Tyrus und kam über Sidon an den See von Galiläa, mitten in das Zehnstädtegebiet. Und sie bringen einen Tauben zu ihm, der mit Mühe redete, und bitten ihn, daß er ihm die Hand auflege. Und er nahm ihn von der Volksmenge beiseite, legte seine Finger in seine Ohren und berührte mit Speichel seine Zunge; und er blickte zum Himmel, seufzte und spricht zu ihm: Hefata! Das ist: Werde geöffnet! Und sogleich wurden seine Ohren geöffnet, und die Fessel seiner Zunge wurde gelöst, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, daß sie es niemand sagen sollten. Je mehr er es ihnen aber gebot, desto mehr machten sie es über alle Maßen bekannt; und sie gerieten in höchstem Maß außer sich und sprachen: Er hat alles wohlgemacht; er macht sowohl die Tauben hören als auch die Stummen reden.

(Kapitel 7, 24 - 37)


Diese Geschichte spielt als einzige von allen Jesusgeschichten außerhalb der Grenzen des alten Israel, und zwar im heutigen Libanon. Sie ist eine von meinen liebsten Geschichten, weil sie eine Person ins Spiel bringt, um die es mir, man möge mir verzeihen, doch in allen Geschichten immer wieder geht: mich selbst.

Ohne die libanesische Frau und ihr freies Zugehen auf Jesus wäre die Botschaft von ihm - menschlich gesprochen - niemals zu einem anderen Volk in der Welt als nur zu den Juden gekommen. Offenbar war ja die internationale Ausweitung des Gottessegens gar nicht geplant. Denn wenn man Jesu ablehnende, ja schroffe Worte vom Beginn der Unterhaltung uneingeschränkt gelten läßt, und es gibt keinen Grund, sie nicht uneingeschränkt gelten zu lassen, dann hatte seine Sendung in die Welt nichts an dem ursprünglichen Plan Gottes geändert, sein Handeln nur an einigen wenigen Menschen zu demonstrieren, eben an den Mitgliedern des kleinen Volkes der Juden.

Dieser Plan erscheint uns heute grausam und ungerecht. Und es gab auch schon im Alten Testament Beispiele dafür, daß sich die Mitglieder anderer Völker danach drängten, den Segen Gottes zu erwerben, und das hieß in vielen Fällen: zu erschleichen. So wird etwa von der Landnahme des Volkes Israel berichtet, daß Gott dem aus Ägypten einwandernden Volk streng geboten hatte, die anderen in Kanaan siedelnden Völker vollständig auszurotten. Nachdem die ersten militärischen Auseinandersetzungen mit der Urbevölkerung den Vernichtungswillen und die Überlegenheit der Israeliten gezeigt hatten, griffen die Bewohner der kanaanitischen Stadt Gibeon zu einer List. Sie zogen den anrückeden Israeliten in abgewetzten Kleidern entgegen und gaben vor, ein aus fernen Landen angereistes Volk zu sein, das ebenfalls JHWH dienen wolle. Die Israeliten schlossen daraufhin einen Bund mit den Gibeonitern, den sie auch einhielten, als wenig später die Täuschung erkannt wurde*.

Auch im späteren Verlauf der Geschichte Israels gelang es immer wieder einzelnen Personen, auf den fahrenden Wagen des mit dem Gottesvolk ziehenden Segens aufzuspringen. In unserer Geschichte ist dies jetzt die Frau aus dem Libanon. Allerdings geht sie einen schweren Weg, denn Jesus ist im Gespräch mit ihr auf eine kaum erträgliche Art und Weise beleidigend. Man beginnt an der Vorstellung des Korans (die sich hier, in Bezug auf Jesus, mit der Vorstellung der Bibel deckt) zu zweifeln, daß ein Prophet wie Jesus ohne Sünde lebt, so hart und verletzend ist seine Rede.

Jesus sagt offen und direkt: das himmlische Brot, welches auf dem Weg über die jüdische Religion und auch in seiner eigenen Person den Menschen angeboten wird, ist nur für die am Tisch sitzenden Kinder, also für die Juden, gedacht. Der Rest der Welt findet sich in Jesu Worten erniedrigt und beleidigt als Hunde unter dem Tisch wieder, vom Brotverzehr ausgeschlossen.

Die Frau aus dem Libanon hat die wundersame Größe, sich von dieser Beleidigung nicht zurückschrecken zu lassen. Aber die Krümel...? Das fragt sie Jesus - und gewinnt mit ihrer Beharrlichkeit und auch mit einer Portion Witz in diesem Moment seine Zuneigung und damit die Garantie für die Heilung ihrer Tochter.

Die Botschaft dieser Geschichte findet sich häufiger im Neuen Testament: einen starken Glauben findet man oft bei Menschen, von denen man es nicht erwartet hat, und umgekehrt gibt es bei den Frommen viel Unglaube.

Und noch eine andere Botschaft kann man lesen, gewissermaßen zwischen den Zeilen: auch für Jesus ist das Reich Gottes oft wie eine heranwachsende Saat, von deren Entwicklung er offenbar selbst überrascht werden kann.

Viele Christen stellen sich Jesus anders vor, fast allwissend, ein geistbegabter Mensch, dessen inneres Programm ihm bereits vollkomen klar und präsent war, bevor er den ersten Schritt in die Öffentlichkeit tat. Mir ist dagegen mit zunehmendem Alter der Jesus immer lieber geworden, dessen menschliche Charakterzüge ihn gelegentlich auch ungewiß und vielleicht sogar zweifelnd machen können.

In dieser Szene gibt er jedenfalls das alte Programm auf, das sich nur auf das Volk Israel konzentriert, und öffnet sein Konzept für die ganze Welt.

Und damit auch für mich. Preis sei Gott!


* geschildert im Buch Josua, Kapitel 9




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