Donnerstag, 1. Juli 2010

Was will Jesus in Jerusalem?





Und als sie sich Jerusalem, Betfage und Betanien gegen den Ölberg hin nähern, sendet er zwei seiner Jünger und spricht zu ihnen: Geht in das Dorf, das euch gegenüberliegt! Und sogleich, wenn ihr dort hineinkommt, werdet ihr ein Fohlen angebunden finden, auf dem noch kein Mensch gesessen hat. Bindet es los und führt es her! Und wenn jemand zu euch sagt: Warum tut ihr dies? so sagt: Der Herr braucht es und sendet es gleich wieder hierher. Und sie gingen hin und fanden ein Fohlen angebunden an der Tür draußen auf dem Weg, und sie binden es los. Und einige von denen, die dort standen, sagten zu ihnen: Was tut ihr, daß ihr das Fohlen losbindet? Sie aber sprachen zu ihnen, wie Jesus gesagt hatte. Und sie ließen sie gewähren. Und sie bringen das Fohlen zu Jesus und legen ihm ihre Kleider auf, und er setzte sich darauf. Und viele breiteten ihre Kleider auf dem Weg aus, andere aber Zweige, die sie auf den Feldern abschnitten; und die Vorangehenden und die Nachfolgenden riefen: Hosanna! Gepriesen sei , der da kommt im Namen des Herrn! Gepriesen sei das kommende Reich unseres Vaters David! Hosanna in der Höhe ! Und er zog in Jerusalem ein, in den Tempel. Und als er über alles umhergeblickt hatte, ging er, da es schon spät an der Zeit war, mit den Zwölfen nach Betanien hinaus.

Und als sie am folgenden Tag von Betanien weggegangen waren, hungerte ihn. Und er sah von weitem einen Feigenbaum, der Blätter hatte, und er ging hin, ob er wohl etwas an ihm fände, und als er zu ihm kam, fand er nichts als Blätter, denn es war nicht die Zeit der Feigen. Und er begann und sprach zu ihm: Nie mehr in Ewigkeit soll jemand Frucht von dir essen! Und seine Jünger hörten es.

Und sie kommen nach Jerusalem. Und er trat in den Tempel und begann die hinauszutreiben, die im Tempel verkauften und kauften; und die Tische der Wechsler und die Sitze der Taubenverkäufer stieß er um. Und er erlaubte nicht, daß jemand ein Gerät durch den Tempel trug. Und er lehrte und sprach zu ihnen: Steht nicht geschrieben: "Mein Haus wird ein Bethaus genannt werden für alle Nationen"? Ihr aber habt es zu einer "Räuberhöhle" gemacht. Und die Hohenpriester und die Schriftgelehrten hörten es und suchten, wie sie ihn umbringen könnten; sie fürchteten ihn nämlich, denn die ganze Volksmenge geriet außer sich über seine Lehre. Und wenn es Abend wurde, gingen sie zur Stadt hinaus.


(Kapitel 11 1 - 19)

An dieser Stelle kann ich ausnahmsweise einmal aus eigener Anschauung berichten, denn ich habe den Weg von Betanien nach Jerusalem selbst im Jahre 1999 zu Fuß gemacht. Er dauert vielleicht eine Stunde und führt zunächst bergan, hinauf auf den hohen Ölberg, von wo man auf die goldene Kuppel des Felsendoms und den riesigen Tempelplatz hinuntersieht. Von dort fällt der Weg steil ab in das zwischen Tempel und Ölberg gelegene Kidrontal.

An diesem Weg standen also damals die Jerusalemer und winkten ihrem neuen König zu, wie er auf einem bescheidenen Esel heranritt, durch das Tal und dann ein kurzes Stück hinauf durch das hier gelegene (und jetzt zugemauerte) Osttor hindurch und in den Tempelbezirk hinein.

An dieser Stelle sind die Tempelgrenze und die Stadtgrenze identisch, und Jesus müßte jetzt, nach seinem Ritt mitten in dieses strategisch wichtige Gebiet, eigentlich etwas tun, was seine Herrschaft über beides, die religiöse und die weltliche Zentrale der Juden befestigt. Das tut er auch, zumindest in Bezug auf den Tempel, er geht im Tempel umher, betrachtet alles – aber dann geht er wieder hinaus. Er geht zurück nach Betanien, vermutlich in das Haus, das Freunde von ihm dort haben. Auf eine formelle Besetzung der Stadt verzichtet er.

Der Gedanke, daß Jesus die Stadt Jerusalem besetzen könnte, ist Christen so fremd wie kaum etwas Anderes. Und trotzdem ist es vermutlich das, was die jubelnden Menschen eigentlich von ihm erwartet hatten – und sich dann enttäuscht abwandten, als nichts dergleichen geschah. An dieser Stelle scheiden sich also die Erwartungen, welche die Juden an Jesus haben, von dem, was er selbst will und was er den Christen später bedeutet.

Die Muslime und die Christen unterscheidet dagegen eine andere Frage, nämlich ob in Jesus etwas Göttliches aufscheint oder nicht, ob er sozusagen auf natürlichem Wege mit Gott wesensverwandt ist oder nicht, ob er ihn wie ein Sohn vertritt, und nicht nur wie ein Prophet.

Einen Moslem interessiert der innerjüdische Streit über Jesus dagegen wenig. Kann er trotz aller Differenzen zu Juden und Christen aus dem Geschehen in den Tagen vor der Kreuzigung etwas herauslesen, was auch seinen Glauben inspiriert und stärkt?

Nun, ich denke, daß allen drei Religionen eine wichtige Erkenntnis gemeinsam ist, die sich auf den Gottesstaat bezeiht und auf die realen Möglichkeiten für einen solchen Staat hier unten auf der Erde. Unsere gemeinsame Erkenntnis sagt uns: es gibt diesen Staat nicht, wir vermissen ihn schmerzlich. Weder das jüdische Friedensreich eines gerechten Königs Salomo noch die von der Scharia erleuchtete Herrschaft eines weisen Kalifen haben je auf Dauer Bestand gehabt, möglicherweise waren sie sogar immer nur in einem idealisierenden Rückblick vorhanden.

Die Christen haben zögerliche Versuche gemacht, Gottesstaaten aufzubauen, Calvin in Genf, Cromwell in London, extremistische Kleinstaatler wie die Täufer in Münster – aber nichts davon hat mehr als eine Handvoll Jahre überlebt und ist in der Erinnerung der Menschen oft als Schreckensherrschaft übrig geblieben.

Jesus wird im Verhör vor seiner Kreuzigung sagen, mein Reich ist nicht von dieser Welt. Dieses Wort hat eine gute Tradition begründet, aus der heraus Menschen aller Religionen bescheiden geworden sind in ihren Erwartungen an ein Gottesreich auf der Erde. Gott will offenbar, daß wir uns auf der Erde in Anfechtungen bewähren und nimmt deshalb das Unrecht niemals ganz von der Welt weg und schafft keine gerechten und idealen Verhältnisse. Wir sollen am Glauben festhalten, nicht weil um uns herum alles nach dem Willen Gottes geschieht, sondern obwohl es gerade nicht so ist.

So nimmt Jesus also sein Hauptquartier nicht in Jerusalem, sondern in Betanien. Zwar wirft er am nächsten Tag die Händler, die vom Tempeltourismus leben, aus dem Vorhof, aber die Priester entfernt er nicht aus ihren Ämtern. Sein Ziel beschreibt er mit einem Zitat aus dem Propheten Jesaja (56,7):

Mein Haus wird ein Bethaus genannt werden für alle Nationen.

Ich ergänze aus eigener Anschauung von meinem Besuch in Jerusalem: dieses Ziel ist in den letzten Jahren im zum allergrößten Teil friedlichen Zusammenleben der drei Buchreligionen in Jerusalem auf eine eigenartige Weise verwirklicht geworden.



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