Dienstag, 22. Juni 2010

Ein Irrtum der Jünger




Sie waren aber auf dem Weg und gingen hinauf nach Jerusalem, und Jesus ging vor ihnen her; und sie erschraken. Die ihm aber nachfolgten, fürchteten sich. Und er nahm wieder die Zwölf zu sich und fing an, ihnen zu sagen, was ihm widerfahren sollte: Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und der Sohn des Menschen wird den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten überliefert werden; und sie werden ihn zum Tod verurteilen und werden ihn den Nationen überliefern; und sie werden ihn verspotten und ihn anspeien und ihn geißeln und töten; und nach drei Tagen wird er auferstehen.

Und es treten zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sagen zu ihm: Lehrer, wir wollen, daß du uns tust, um was wir dich bitten werden. Er aber sprach zu ihnen: Was wollt ihr, daß ich euch tun soll? Sie aber sprachen zu ihm: Gib uns, daß wir einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken sitzen in deiner Herrlichkeit! Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wißt nicht, um was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder mit der Taufe getauft werden, mit der ich getauft werde? Sie aber sprachen zu ihm: Wir können es. Jesus aber sprach zu ihnen: Den Kelch, den ich trinke, werdet ihr trinken, und mit der Taufe, mit der ich getauft werde, werdet ihr getauft werden; aber das Sitzen zu meiner Rechten oder Linken zu vergeben, steht nicht bei mir, sondern ist für die , denen es bereitet ist.

Und als die Zehn es hörten, fingen sie an, unwillig zu werden über Jakobus und Johannes. Und Jesus rief sie zu sich und spricht zu ihnen: Ihr wißt, daß die, welche als Regenten der Nationen gelten, sie beherrschen und ihre Großen Gewalt gegen sie üben. So aber ist es nicht unter euch; sondern wer unter euch groß werden will, soll euer Diener sein; und wer von euch der Erste sein will, soll aller Sklave sein. Denn auch der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele.

Und sie kommen nach Jericho. Und als er und seine Jünger und eine große Volksmenge aus Jericho hinausgingen, saß der Sohn des Timäus, Bartimäus, ein blinder Bettler, am Weg. Und als er hörte, daß es Jesus, der Nazarener, sei, fing er an zu schreien und zu sagen: Sohn Davids, Jesus, erbarme dich meiner! Und viele bedrohten ihn, daß er schweigen sollte; er aber schrie um so mehr: Sohn Davids, erbarme dich meiner! Und Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn! Und sie rufen den Blinden und sagen zu ihm: Sei guten Mutes! Steh auf, er ruft dich! Er aber warf sein Gewand ab, sprang auf und kam zu Jesus. Und Jesus antwortete ihm und sprach: Was willst du, daß ich dir tun soll? Der Blinde aber sprach zu ihm: Rabbuni, daß ich sehend werde. Und Jesus sprach zu ihm: Geh hin, dein Glaube hat dich geheilt! Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm auf dem Weg nach.

(Kapitel 10, 32 – 52)

Nach muslimischer Vorstellung gibt es einen grundlegenden Irrtum der Jünger Jesu, der in ihrer fehlerhaften, von der griechischen Umwelt beeinflußten späteren Wiedergabe der Lehre Jesu besteht. Folgt man dem Zeugnis des Markus, dann haben die Jünger schon sehr viel früher, zu Lebzeiten Jesu eine ganze Reihe von Fehlern gemacht. Einer davon wird hier auf besonders blamable Weise geschildert: Jesus schickt sich an, in wenigen Tagen sein grausames Martyrium zu erfüllen, und die Jünger bewerben sich um die glänzenden ersten Plätze in der künftigen Regierung des Reiches Gottes! Die Szene wirkt fast lächerlich und stellt die Jünger in ein äußerst ungünstiges Licht.

Jesus reagiert überraschend milde auf den unangemessenen Ehrgeiz seiner Jünger. Nein, sagt er, die ersten Plätze im Reich Gottes kann er nicht vergeben, es steht ihm nicht zu. Und dann nimmt er die Gelegenheit wahr und redet ganz allgemein vom neuen Charakter der Herrschaft im Reich Gottes: der König dieses Reiches ist der Diener und Sklave aller, nicht ihr Herr.

In der Geschichte der Christen ist diese Lehre vom Diener-König oft vergessen worden. Man hat gesagt: so etwas es geht in der Praxis nicht, denn jeder König, der nicht konsequent herrscht, dem tanzen die Leute auf der Nase herum. Aber es hat auch immer wieder gelungene Versuche gegeben, nach den Grundsätzen dieses sanftmütigen und demütigen Reichs zu leben. Besonders in kleinen Gemeinschaften, in Familien und Nachbarschaften, gab es immer wieder das Bestreben, einen unteren Weg zu finden, Konflikte durch Nachgeben zu lösen, den Frieden vor den Besitz zu stellen, vor die Macht, manchmal sogar vor die Vernunft.

Man weiß nicht, wie sich die Welt ohne die mit der Person Jesus verbundene Lehre und ohne sein Vorbild der Sanftmut anders entwickelt hätte. Aber man kann sicherlich sagen, daß mit Jesus eine neue Lebensform und -möglichkeit in die Welt gekommen ist, eine Alternative zu Herrschaft und Gewalt. Sie hat bis heute nichts von ihrer Anziehungskraft verloren.



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